Fortsetzung vom 29.10.2019
Diesen Bericht seiner späten Aktivitäten als freier Filmmusikproduzent verfasste Richard Kummerfeldt im Exil in Südamerika für ein (deutsches?) Fachmagazin. Es gewährt Einblicke in die letzten Jahre der Tonträgerindustrie vor deren Verschlafen der digitalen Revolution, in die Welt der käuflichen Filmmusik, die Seele des Sammlers (heute „Nerd“), die Finessen des sich wandelnden Urheberrechts und erzählt von der Arbeit mit schwierigen Bürohengsten und Künstlerpersönlichkeiten in den 90er Jahren.
Transition Time auf dem Tonträgermarkt
In Hamburg wurde mir eröffnet,
dass Proton baldmöglichst bei Thomas, bei dem die Firma zur Untermiete wohnte,
ausziehen müsse. Thomas brauchte die Räume selbst für seine eigenen
Produktionen. Und die wurden rasch mehr. Er hatte in den USA (vermute ich)
einen Kontakt hergestellt, über den er an Live-Mitschnitte von Künstlern wie
Michael Jackson, Prince oder Bob Dylan herankommen konnte. Der Gesetzgeber
hatte es bisher versäumt, die rechtliche Behandlung dieses Bandmaterials zu
regeln. Thomas hatte sich diesbezüglich über seinen Anwalt abgesichert.
Das war nichts Kriminelles – noch war dies ein junger Markt, der gerade erst am
Entstehen war, – aber die großen Schallplattenfirmen waren schon auf der Palme.
Eile war also geboten, ehe sich diese Gesetzeslücke schließen würde.
In der sprach sich rasch Branche herum, welche Stückzahlen sich auf diese Weise
verkaufen ließen. Ein ideales Konzept für jene, die sich den Aufwand einer
eigenen Produktion sparen wollten. Sie kauften sich einfach eine CD im Laden,
veränderten das Cover ein wenig und ließen die Scheibe dann in Tschechien oder
Israel nachpressen.
Noch wartete die Branche ab, ob diesen Trittbrettfahrern wirklich nichts
passierte. Aber außer gelegentlichem Donnergrollen aus den Häusern Sony, EMI,
WEA und Co. kam da nichts.
Nur eines habe ich nie verstanden: warum brachte die Industrie diese Titel
nicht selbst in die Schallplattengeschäfte? Im mittleren Preissegment wäre da
schon viel Luft aus der Blase gelassen worden, denn sicherlich hätten die Disponenten im
Fachhandel eher zur offiziellen CD gegriffen. So hätte sich die Goldgräberzeit gut
überbrücken lassen.
Es mag im Frühjahr 1995 gewesen sein, als ein Urteil aus Luxemburg dem bunten
Treiben jählings ein Ende machte. Für viele kleine Unternehmer, die zu spät auf
den Zug aufgesprungen waren und es versäumt hatten, ihre CDs schon vor der
Urteilsverkündung aus den Geschäften zurückzurufen, war es nicht nur das Ende
des Traums vom schnellen Geld, sondern der finanzielle Ruin. Die deutschen
Anwälte überzogen diese Firmen flächendeckend mit Klagen. Deutschland hatte mit
einem Schlag ein paar hundert Arbeitslose mehr, und ob die damit verbundenen
Kosten durch die erhöhten Steuerabgaben der Anwälte gedeckt wurden, wage ich zu
bezweifeln. Anwälte und Steuerberater wissen sich dem Finanzamt gegenüber stets
arm zu rechnen.
Jedenfalls musste Proton umziehen, und VRC fand ganz in der Nähe einen neuen Firmensitz, ein Mittelding zwischen großer Garage und kleiner Lagerhalle. Wohl habe ich mich dort nie gefühlt, und ich muss gestehen, ich war froh, als VRC im folgenden Jahr Proton für zahlungsunfähig erklärte und ich von Thomas und seinem „Fenn Music Service“ (FMS) übernommen wurde. Aber erst einmal musste der Winter in der nahezu unbeheizten Location überstanden werden. Und dann stand ja auch noch die MIDEM bevor, die ich ohne die „Miss Marple“-CD in der Hand absolvieren musste. Was aber war nun in Pirmasens los, dass Heinz S.O.S. funkte? Sein Bericht versetzte auch mich in Alarmstimmung. Die Tagesumsätze, das Hauptgeschäft also, war zu fast 100% weggebrochen. Einfach nicht mehr da. Warum? Heinz erklärte mir, dass die Deutsche Bank das Nachbarhaus an unserer Einfahrt und auch das große Eckhaus oben an der Hauptstraße gekauft und mit dem Umbau des ganzen Komplexes begonnen habe. Das schöne Eckhaus würde komplett entkernt und banktauglich gemacht. Auch das Nachbarhaus sollte verändert werden und einen eher festungsähnlichen Charakter erhalten. Ob ich nicht vorbeikommen könne, um mir ein genaueres Bild von der Lage zu machen. Und außerdem sei er mit seinen Nerven völlig am Ende und brauche dringend Urlaub. Dort wollte er sich übrigens mit Herrn Klick treffen. Der hätte für seine Filme keinen Vertrieb mehr, das wolle er dann von Pirmasens aus machen. „Völlig risikolos und eine sichere Einnahmequelle“. Gut, von dem Geschäft hatte er mehr Ahnung als ich, und in dieser Situation war jedes weitere Standbein willkommen. Ich holte mir also von VRC das Okay für 14 Tage Pirmasens. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, aber das Weihnachtsgeschäft würde ja auch erst Mitte Oktober anlaufen. Eva war es ziemlich egal, ob ich in Hamburg oder Pirmasens war, also kündigte ich mich bei Heinz für das Wochenende an.