Daheimbleiben mit … „The Navidson Record“

Die Corona-Krise beflügelt Wiederlektüre und Nostalgie. In den spiralförmig wabernden Nebeln des Home-Office dringen wir in papierene Schichtstufen vor, die seit ihrer Ablage keines Menschen Hand mehr berührt hat.

betr.: Die Verschwörungstheorie in Gestalt der Leichten Muse

Die Kunst der kontrafaktischen Belletristik (1)

Es liegt gar nicht so lang zurück, da haben sich zum bisher letzten Mal einige Schlaumeier in einer uralten Kunst der Mediengeschichte versucht: ein Werk erst zu erfinden, es dann zurückzudatieren und schließlich als verschollen zu melden, um einer Legende Vorschub zu leisten. Das passte schon vor gut zehn Jahren nicht mehr in unsere Zeit, die geheimnislosen Tage der fast schon automatischen Reproduzierbarkeit und Verbreitung alles Geschaffenen über die sozialen Netzwerke.
Aber sehen wir uns diesen und einen älteren, klassischen Fall dennoch aus der Nähe an.

1. „Das Haus“

Mark Z. Danielewski wurde vom Feuilleton das vergängliche Kompliment gemacht, mit „House Of Leaves“ (im Frühjahr 2000 als Buch, zuvor im Internet veröffentlicht) „das erste Kultbuch des 21. Jahrhunderts“ geschrieben zu haben, sei doch „alles daran (…) entweder wahr oder genial inszeniert“.
Die Geschichte: Im Haus der Familie Navidson in Wisconsin taucht Anfang Juni 1990 der Zugang zu einem schier endlosen Höhlensystem auf. Bei der Erkundung dieses Zugangs zur Hölle sterben drei Menschen. Diese Ereignisse seien belegt durch Filmfragmente, die der Dokumentarfotograf Will Navidson aufgenommen habe, den sogenannten „Navidson Record“. (Trotz des Pulitzerpreises, den dieser angeblich erhalten hat, verweigert die Wikipedia ihm einen Eintrag.) Weiterhin habe ein Amateur-Kinematologe namens Zampano Aufzeichnungen zusammengetragen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Zu mir drang das Phänomen nur ein einziges Mal vor: 2009 in Gestalt eines Hörspiels „in drei Ebenen“ mit dem Titel „Das Haus“. Im Prolog wird der Film „The Navidson Record“ dem „Kulturgut der USA“ zugerechnet, und das Hörspiel wollte ihn sowie das überirdische Phänomen dazu nun rekonstruieren.
Schon beim Prolog spürte ich: der Unterhaltungswert der Produktion fußte vollständig auf der Voraussetzung, das man zumindest in dem Maße geneigt ist, die Geschichte zu glauben, in der man z.B. bereit ist, den Schauspieler Anthony Hopkins zwei Stunden lang für einen Kannibalen zu halten. Die Macher trauten der Sache selbst nicht. Zu klein sind die Brötchen, die gebacken werden, wenn es im Vorwort heißt: „Obwohl ihn mittlerweile Hunderttausende gesehen haben, bleibt der Film ein Rätsel. Manche behaupten steif und fest, dass er echt ist, andere halten ihn für eine Posse wie Orson Welles‘ ‚Krieg der Welten‘. Und viel größer ist die Zahl derjenigen, die noch nie etwas davon gehört haben, da der Film kurz nachdem er in die Kinos gekommen war, zurückgezogen wurde. Bis heute kursieren Szenen aus dem Film in Internet-Foren wie Youtube. Ihre Echtheit wird bezweifelt.“

Die Sorge war begründet. Nicht einmal bei Kopfhörergenuss und geschlossenen Augen (und das sagt ein ausdrücklicher Freund des Eskapismus, der es liebt, sich von Erzählern hinters Licht führen zu lassen) stellte sich bei mir irgendeine Form von Anteilnahme her.
Vielleicht schielten die Autoren aber auch auf eine völlig andere Zielgruppe als mich: auf das stetig wachsende Publikum der Verschwörungstheoretiker (für das es in früheren Zeiten weitaus unfreundlichere Bezeichnungen gab). Und sie machten nur den Fehler, für ihren medialen Feldversuch einen politisch zu wenig missbrauchstauglichen Stoff gewählt zu haben. 

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