Daheimbleiben mit … dem „Necronomicon“

Die Corona-Krise beflügelt Wiederlektüre und Nostalgie. In den spiralförmig wabernden Nebeln des Home-Office dringen wir in papierene Schichtstufen vor, die seit ihrer Ablage keines Menschen Hand mehr berührt hat.

betr.: Die Verschwörungstheorie in Gestalt der Leichten Muse

Die Kunst der kontrafaktischen Belletristik (2)

Fortsetzung vom 26.3.2020

2. Das „Necronomicon“

Sieht man einmal vom Charakter des Sherlock Holmes ab, an dessen Postadresse unzählige ernst gemeinte Bitten um Hilfe gesandt wurden (falls das nicht auch gelogen ist), ist das „Necronomicon“ sicher der berühmteste Fall einer literarischen Fiktion, die es zu fast physischer Greifbarkeit gebracht hat.
Es handelt sich dabei um ein schwarzmagisches Ritualbuch, das frühzeitig geächtet und verboten wurde wie sich das gehört. Als seinen Verfasser nennt der zu Lebzeiten unbedeutende Autor H. P. Lovecraft immer wieder den „verrückten Araber Abdul Alhazred“. „Immer wieder“ bedeutet: er bezieht sich auf dieses „historische“ Quellenwerk, lässt seine Helden (viele davon Ich-Erzähler) daraus zitieren und listet es häufig in Literaturverzeichnissen auf, in denen sich ansonsten tatsächlich existierende Titel finden. Er verortet ein Exemplar davon sogar physikalisch in der Bibliothek einer Universität.

Die Konsequenz, mit der Lovecraft dies über Jahre in unzähligen Erzählungen getan hat – erstmals 1922 in „Der Hund“ – trug zu diesem Mythos ebenso bei wie seine erzählerische Hingabe. Wie grotesk es in seinen Texten auch zugehen mag, stets bewahrt er einen dokumentarischen Stil und verwebt seine Phantastereien mit historisch Nachprüfbarem, Allzumenschlichem, feiner Landeskunde und guter Recherche.
Sein zunächst überschaubares Publikum, das immer wieder auf die Existenz des „Necronomicon“ hingewiesen wurde, korrespondierte mit Lovecraft und wurde ausdrücklich ermuntert, die Fama weiterzuspinnen. Aus dieser frühen Leserschaft gingen überaus erfolgreiche Schriftsteller hervor, die der Aufforderung im eigenen Werk gerne gefolgt sind. Man kann sie inzwischen ihrerseits gesammelt in Buchform erwerben.

Es klappte: irgendwann wurde das „Necronomicon“ gesucht, verlangt und bestellt – auch von Leuten, die nie Lovecraft gelesen hatten. Unter Buchhändlern und Antiquaren wurde es zeitweilig zum In-Joke, dafür Anzeigen zu schalten und gesalzene Preise aufzurufen.

Walter Baylors unernstes Inserat aus dem „Antiquarian Bookman“

Ist ein solcher „fiktiver Bestseller“ heute noch möglich?

Ließe sich ein solcher Hoax heute wiederholen? Die Langweile und Gutgläubigkeit des Zivilisationsmenschen sind schließlich so ausgeprägt wie seit dem Mittelalter nicht mehr.
Vielleicht. Doch ganz einfach wäre es nicht.
Lovecrafts schriftstellerische Geduld und Gründlichkeit ist im digitalen Zeitalter bisher nicht vorgekommen. Außerdem könnte „Beweismaterial“ – etwa ein Film wie der eingangs beschriebene* – heute nach einmal erfolgter Auswertung nicht mehr spurlos verschwinden, und das war vor gut zehn Jahren sicher nicht anders.
Andererseits ließe sich die fleißige Netzwerkerei des alten Knaben aus Providence, der vor gut 100 Jahren seine Community mit zigtausenden persönlicher Nachrichten versorgte, heute viel müheloser umsetzen.
Jetzt bräuchte es nur noch einen ausreichend kreativen Verstand und ein Publikum mit Humor, und es könnte losgehen.
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2020/03/26/das-haus/

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