Die Aufblende (4)

Lange sann ich darüber nach, mit welcher Aufnahme ich meine Apparatur einweihen sollte. Mit „Good Vibrations“? Mit „Theme from Horror Express“ von John Cacavas? Oder mit „Samba Pa Ti“ von Carlos Santana?
Schließlich entschied ich mich gegen all diese Kostbarkeiten. Ich wollte der eigentlichen Premiere einen Test vorausschicken, um ganz sicher zu sein, dass alles lief. Ich hatte zu lange auf diesen Augenblick gewartet, um eine Panne zu riskieren – eine lächerliche Panne, die mir oder dem Apparat unterlief.
Schließlich hatte ich noch nie erlebt, dass beim ersten Benutzen eines technischen Gerätes alles einwandfrei funktionierte.
Ich griff also in die Kiste unter dem Tisch, die ausgemisteten CDs eines Freundes, die ich noch nicht durchgehört hatte. Mit einem Auge sah ich den Namen einer Band auf dem Cover, den ich schon wieder vergessen hatte, als die Aufnahme startete.
Ich war angenehm überrascht. Für heutige Verhältnisse war das recht zünftig, was die Jungs da spielten. Schon beinahe Jazz. Nichts Berühmtes natürlich! Aber ich hatte Schlimmeres erwartet.
Da kam mir eine Idee! Mein Zaudern, mit etwas Bedeutsamem anzufangen, könnte ich doch nun mit einer anderen Kühnheit wieder wettmachen: ich würde die Abblende korrigieren, ohne die Aufnahme zu kennen. Das wäre doch gelacht!
Ich wartete also, die Hand am Hebel, auf das, was mich bisher bei unzähligen Musikerlebnissen demoralisiert hatte: auf den Moment, da der Arm des Tontechnikers den Regler erbarmungslos ohne Rücksicht auf künstlerische Grundsätze nach unten zieht.
Zum Glück sang niemand. Die Combo hatte ihren dritten Refrain beendet und begann zu improvisieren – verspielt wie ein Trio junger Eisbären, irgendwie drollig und mit einem Wagemut, der in den bisherigen Reprisen gefehlt hatte. Da begann es! Die Lautstärke nahm ab, und ich begann zu pegeln. Ich holte zunächst den Vorsprung des Studio-Tonmeisters ein – ich war richtig gut; ein argloser Zuhörer hätte gar nichts bemerkt, so fix hatte ich reagiert – und zog den Regler in umgekehrter Richtung weiter und weiter auf.
Das Grundrauschen stieg an, wie ich es schon von meinen früheren Experimenten an der Stereoanlage kannte, doch diesmal musste ich nicht bei „null“ aufhören. Ich betrat die Negativ-Zone! Die Musiker spielten weiter, und ich folgte ihnen – bis minus drei, minus neun, minus dreizehn. Der Kontrabassist spielte noch eine besonders launige Figur, da stiegen seine Kollegen aus, und auch er kam mit zwei entschiedenen Griffen zum Ende.
Die Lautstärke verringerte sich jetzt nicht weiter, das Mischpult im Studio war an sein Ende gekommen.
Es knackte, und ich hörte, wie eine blecherne Stimme: „Danke, dufte!“ rief. Nach einer kurzen Pause begann eine murmelnde Unterhaltung, der ich nur mit Mühe folgen konnte, denn das Rauschen war ziemlich laut. Doch es gelang mir.

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