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Viele hielten ihn für einen Menschenfeind, aber das traf die Sache nicht.
Er war von seiner Mutter zur Selbstverachtung erzogen worden. Da sie selbst nur die Konflikte verkraftete, die sie nicht offen austrug, hielt sie ihren einzigen Sohn stets dazu an, allen Streitigkeiten aus dem Wege zu gehen. Wer ihn angriff oder herabsetzte, der würde schon seine Gründe haben.
Und da er seine Mutter lieb hatte und ihr vertraute – wie das wohl jeder kleine Junge tut – brauchte er eine ganze Weile, bis er diesen Ansatz zu hinterfragen begann.
Er war keiner von der rebellischen Sorte, die aus Prinzip dagegen sind. Aber eine diffuse Ungewissheit nagte an ihm, nachdem er die ersten Gleichaltrigen kennengelernt hatte.
Erst als er 14 war, kam es zu einem peinlichen Ereignis in seinem Elternhaus, das ihn endgültig an der Richtigkeit der elterlichen Botschaften zweifeln ließ. Das widerfuhr ihm gerade noch rechtzeitig, um eine Vollbremsung hinzulegen und intensiv über sein Verhältnis zur Welt nachzudenken. Doch es war viel zu spät, um es zu korrigieren.

Eine der harmloseren Macken, die er fürs Leben davontrug, war das Urvertrauen in seine Mitmenschen, sie würden schon irgendwie klarkommen. Er unterstellte allen eine Mindestportion an Lebenstüchtigkeit, die zwangsläufig über der seinen lag. Besonders, wenn es um die Dinge ging, die ihm selbst lagen, fand er die Idee geradezu absurd, jemand anderes könnte damit Schwierigkeiten haben.
So wirkte er auf die meisten Menschen ziemlich herzlos. Ganz besonders dann, wenn er mit der Botschaft, sein Gegenüber solle sich mal keine Sorgen machen, Aufmunterung verbreiten wollte.

Aus „Der Minutendieb“ (C. O.)

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