Geschichte des Komiker-Handwerks (40)

Fortsetzung vom 26.8.2020

Vorgebliche Interaktion

Es klingt paradox, doch gerade diese Vermeidung einer Festlegung erlaubt es möglichst vielen Zusehern, sich der Person am Mikrofon menschlich nahe zu fühlen.
Zu den Besonderheiten der Stand-Up-Comedy zählt schließlich die direkte Kommunikation mit dem Publikum, ein Geben und Nehmen. Hier ist ein Mensch, der von sich selbst erzählt, im weitesten Sinne ehrlich ist und den (bzw. dessen Kunstfigur) wir im Laufe des Abends fast so gut kennenlernen, als hätten wir die Zeit mit ihm gemeinsam an der Bar verbracht …
 
Dieses Credo der Branche ist natürlich nur teilweise richtig. Wie auf jeder Bühne, sind auch hier Blendwerk und Behauptung im Spiel, und das ist vollkommen in Ordnung.
Selbstverständlich muss jeder, der Eintrittskarten zum Verkauf anbietet, in der Lage sein, einen Abend zu füllen, unabhängig von der Reaktion oder den ungewollten Einmischungen des Saals.* Der „Dialog“ mit den Leuten ist nur Schein, er ist vorgezeichnet und beruht weitgehend auf einer Handvoll kommunikativer Taktiken: provozierter Zustimmung, Einladung zu gemeinsamer Empörung, Smalltalk, dem (gesunden) Volksempfinden, der kollektiven Zuschauererwartung oder der gezielten Missachtung ebendessen. Das ist eine Kunst für sich, und im Gelingensfalle fühlt man sich im Publikum so, als hätte man sich tatsächlich in einem anregenden Austausch befunden.

Was geschähe, wenn die Künstler ihre Hausordnung tatsächlich wörtlich nähmen, hat mir ein Kollege einmal eindrucksvoll in seinem Soloprogramm vorgeführt.
Nach der Pause hatte er eine etwa 30minütige Passage im Programm, in der er sich ganz auf die verbalen Reaktionen seines Auditoriums verließ. Er ließ eine gewaltige Lücke und spekulierte auf möglichst originelle Beiträge. Die forderte er ganz offen ein, und als verständlicherweise niemand mitspielen wollte** (das alles ereignete sich in einem bürgerlichen Hamburger Stadtviertel), hatte der Kollege seinerseits nichts zu erzählen. Er improvisierte nicht, noch griff er auf bereitgelegtes Notfallmaterial zurück. Nein, er schmunzelte und meinte sinngemäß, da müssten wir jetzt zusammen durch. Und er blieb wirklich eisern! Kurz vor Schluss besann er sich kurz seiner eigentlichen Aufgabe und erfreute uns mit etwas Text, ehe er zum Ende kam.
Was war geschehen?
Der Künstler hatte nicht aus Ethos oder Experimentierfreude gehandelt. Er hat keine gezielte Provokation begangen. Es war die reine Faulheit! Und die Strafe dafür traf sämtliche Anwesende.

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* Über den Typus des „Hecklers“ steht Näheres unter https://blog.montyarnold.com/2020/05/24/15998/
** Siehe dazu Punkt 9 des Leitfadens unter https://blog.montyarnold.com/2014/09/17/leitfaden-fuer-solokuenstler/ sowie den 1. Text in Georg Hensels Polemiken-Sammlung „Wider die Theaterverhunzer“

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