Die wiedergefundene Textstelle: „Die Hände des Mr. Ottermole“ (ii)

Zu diesem Text siehe https://blog.montyarnold.com/2020/09/22/die-haende-des-mr-ottermole-monolog/

Gehen Sie, Mr. Whybrow, gehen Sie nur zu. Werfen Sie noch einmal einen Blick auf die vertrauten Dinge auf Ihrem abendlichen Heimweg. Streben Sie Ihrem irrlichternden Teetisch zu. Laben Sie sich an seiner Wärme, seiner Farbe und Freundlichkeit. Gönnen Sie Ihren Augen diesen Anblick, und lassen Sie seine häuslichen Düfte Ihre Nase umschmeicheln, denn Sie werden nie daran platznehmen. Sie werden noch zehn Minuten so weitergehen, dann hat das schleichende Phantom in seinem Herzen gerichtet und Sie verdammt.
Da gehen Sie nun – Sie und das Phantom, zwei nebelhafte Schemen des Todes auf dem dunklen Gehweg, der eine um zu töten, der andere, um getötet zu werden.

Gehen Sie weiter! Plagen Sie Ihre brennenden Füße nicht mit Eile. Je langsamer Sie gehen, desto länger atmen Sie die kristallklare Luft dieses Januarabends, sehen Sie das verträumte Straßenlicht und die kleinen Läden, hören Sie die angenehme Geschäftigkeit der Londoner und das Heulen des Leierkastens. All diese Dinge sind Ihnen teuer, Mr. Whybrow. Sie wissen es noch nicht, aber in fünfzehn Minuten werden Ihnen zwei Sekunden bleiben, in denen Sie merken, wie unsagbar teuer sie Ihnen sind.

Gehen Sie also durch dieses bunte Labyrinth.
Jetzt sind Sie in der Lagos Street, zwischen den Zelten der Zigeuner aus Osteuropa. In etwa einer Minute befinden Sie sich in der Loyal Lane mit Ihren Pensionen, in denen die Nutzlosen und Gestrandeten im Gefolge des Zeltlagers Unterschlupf finden. In der Straße hängt ihr Geruch, und die sanfte Dunkelheit scheint schwer vom Jammer der Unnützen. Aber Sie sind gegenüber dem nicht Fassbaren und Fühlbaren unempfindlich, und Sie stapfen blind hindurch wie jeden Abend.

Jetzt durch die Blean Street. Bis in den Himmel ragen die Gebäude der Gastarbeitersiedlung. Die Fenster bilden gelbe Schlitze in den schwarzen Wänden. Hinter diesen Fenstern regt sich fremdartiges Leben, dessen Art weder aus London stammt noch überhaupt englisch ist, doch im Grunde das gleiche angenehme Leben, das Sie bis heute abend gelebt haben.
Von irgendwo hoch über Ihnen erklingt die schmalzige Version des „Song Of Catta“. Durch ein Fenster sehen Sie eine Familie bei einer religiösen Zeremonie. Hinter einem anderen gießt eine Frau ihrem Mann Tee ein. Sie sehen einen Mann Stiefel flicken und eine Mutter ihr Baby baden.
Sie haben all das schon vorher gesehen, aber nie wahrgenommen.
Auch jetzt nehmen Sie es nicht wahr.
Doch wenn Sie wüssten, dass es nie wiedesehen, bemerkten Sie es gewiss. Sie werden es nie wiedersehen. Nicht weil dies der natürliche Verlauf Ihres Lebens wäre, sondern weil ein Mann, dem Sie schon oft auf der Straße begegnet sind, zu seinem ureigensten Vergnügen beschlossen hat, sich der furchtbaren Gewalt der Natur zu bemächtigen und Sie zu vernichten!
So ist es vielleicht gut, dass Sie all die Dinge nicht bemerken, denn Ihr Anteil daran ist vorbei. Es gibt diese schönen Momente nicht mehr auf Ihrem irdischen Weg, nur noch einen Moment des Grauens, dann die allesverschlingende Dunkelheit.

Der Schatten des Verderbens kommt näher, und jetzt ist er etwa hundert Meter hinter Ihnen. Sie können seine Schritte hören, aber Sie drehen sich nicht um. Schritte sind Ihnen vertraut. Sie sind in London, die Sicherheit Ihrer täglichen Umgebung umfängt Sie, und Ihr Instinkt sagt Ihnen, dass Schritte hinter Ihnen lediglich ein Zeichen menschlicher Gesellschaft sind.
Aber hören Sie denn nicht etwas aus diesen Schritten heraus – etwas, das nicht zum Takt dieser Schritte passt? Etwas, das sagt: Sieh dich vor, sieh dich vor! Hören Sie nicht jede einzelne Silbe: Mör-der, Mör-der?
Nein. Nichts liegt in diesen Schritten, sie verraten nichts. Ein Betrüger tritt ebenso auf wie ein ehrenhafter Mensch. Aber mit diesen Schritten, Mr. Whybrow, nähert sich Ihnen ein paar Hände, und eben mit diesen Händen ist etwas. Gerade jetzt strecken diese Hände hinter Ihnen jeden Muskel, um sich auf Ihr Ende vorzubereiten.
Jeden Tag Ihres Lebens haben Sie mit menschlichen Händen zu tun. Haben Sie schon einmal das Grauen an Ihnen wahrgenommen – an jenen Anhängseln, die das Symbol für Vertrauen, Sympathie und Willkommensgruß bilden? Haben Sie schon einmal überlegt, welche grauenerregenden Möglichkeiten im Umfeld dieses Organs mit seinen fünf Auswüchsen liegen?
Nein, niemals! Denn alle Hände, die Sie jemals gesehen haben, streckten sich Ihnen in Höflichkeit oder Freundschaft entgegen. Auch wenn Augen hasserfüllt blicken oder ein Mund verletzende Dinge sagen kann, ist doch nur dieses schlenkernde Glied in der Lage, alles Böse in sich zu vereinen und in Zerstörung zu verwandeln. Satan kann durch viele Türen hineinschlüpfen, aber nur in den Händen findet er willige Diener.
In einer weiteren Minute, Mr. Whybrow, werden Sie alles über das Grauen von menschlichen Händen wissen!

Sie sind jetzt fast zu Hause. Sie sind in Ihre Straße eingebogen – Caspar Street – und damit in das Zentrum des Labyrinths. Sie können das vordere Fenster Ihres kleinen Vierzimmerhäuschens sehen. Die Straße ist düster, und ihre drei Lampen werfen einen schmutzigen Lichtkreis, diffuser als die Dunkelheit. Sie ist dunkel – und leer.
Kein Mensch ist unterwegs, keine Laternen vor den Häusern. Die Leute sitzen beim Tee. Nur zufällig erleuchtete Fenster in einem Obergeschoss mit Logiergästen.
Niemand ist zu sehen außer Ihnen und Ihrem Verfolger, und den bemerken Sie nicht. Sie sind ihm so oft begegnet, dass Sie ihn nie gesehen haben. Selbst wenn Sie sich umgedreht und ihn erblickt hätten, würden Sie nur „Guten Abend“ sagen und weitergehen. Bei der Vorstellung, er könnte ein Mörder sein, würden Sie noch nicht einmal lachen. Es wäre zu albern.

Und nun sind Sie bei Ihrer Gartentüre. Sie haben den Hausschlüssel herausgekramt. Jetzt sind Sie drinnen und hängen Hut und Mantel auf. Ihre bessere Hälfte hat Ihnen aus der Küche einen Gruß zugerufen, dessen Echo sein Duft ist (Heringe!), und Sie haben ihn zurückgegeben, als die Tür unter heftigem Klopfen erzittert.
Gehen Sie weg, Mr. Whybrow! Bleiben Sie dieser Tür fern! Rühren Sie sie nicht an! Gehen Sie sofort weg von ihr! Verlassen Sie das Haus! Laufen Sie mit Ihrer Frau hinten durch den Garten und über den Zaun! Oder rufen Sie die Nachbarn! Aber berühren Sie bloß nicht diese Tür! Nicht, Mr. Whybrow! Nicht öffnen …!

Mr. Whybrow öffnet die Tür.

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