Vom Umgang mit stehenden Wendungen

betr.: Sprechen am Mikrofon / Blattlesen

Es gibt Sätze, die darf man als Klassiker bezeichnen – nicht nur im sprachlichen, sondern auch im musikalischen Sinne. Sie sind „Hits“. Stehende Wendungen wie das grundsätzlich sarkastisch in sich verkehrte „Du hast mir gerade noch gefehlt!“ werden immer gleich betont, unabhängig von Situation und Textumfeld.
Ähnlich verhält es sich mit einem Satz, den ich kürzlich in einer Lesung zu sprechen hatte: „Die haben angefangen!“
Meine Regisseurin bat mich, ihn auf dem ersten Wort zu betonen. Ausnahmsweise warb ich für eine Alternative.
Das Stehende an diesem Satz ist eine vorangehende Provokation durch Dritte, ein Anschiss von höherer Ebene. Bei unserer Lesung lautete das Stichwort: „Was habt ihr hier zu suchen? Und wer hat euch erlaubt, dem Kerl bei seiner Strafarbeit zu helfen?“
Die Erwiderung „Die haben angefangen!“ ist nicht als Antwort auf diese Fragen, gedacht, sondern eine Ausflucht im Sinne von: „Ist doch egal, was wir hier zu suchen haben und wer es uns erlaubt hat. Viel wichtiger ist, dass die anderen angefangen und wir nur mitgemacht haben (was ja wohl nicht so schlimm sein kann, oder?).“
Der Satz eröffnet demnach ein neues Thema – wie alle klassischen Ausreden.

Würde das Stichwort lauten: „Wer hat angefangen?“, wäre die Antwort: „Die haben angefangen!“ Theoretisch. In der Praxis würden wir jedoch etwas knapper antworten: „Die waren’s!“
Insofern ist „Die haben angefangen!“ einer dieser Hits mit immer gleicher Melodie.

Warum aber wurde sich die andere Variante überhaupt gewünscht? Die angestellte Überlegung ist nachvollziehbar – schuld sind ja schließlich die anderen! -, würde aber im Alltag / in unserer Szene aus Zeitgründen nicht stattfinden. Eine Ausrede muss schnell abgefeuert werden, um glaubwürdig sein zu können. Deshalb verliert man keine Zeit und lässt sie so wie sie ist.

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