Wildgruber auf Sylt: Epiphanie in der Morgenstunde (1)

„Wildgruber auf Sylt“ ist der dritte Teil von Cadwiller Oldens „Hamburger Trilogie“. Der im Titel genannte Künstler kommt im Stück nicht vor (– wie auch Witta Pohl in „Butter für Frau Pohl“ nicht persönlich auftritt). Das Stück spielt nicht einmal auf Sylt. Aber der moderne Filmklassiker „Fargo“ spielt ja auch nicht in „Fargo“ und „Wanderer, kommst du nach Spa“ nicht in Spa. In diesem Sinne …

Epiphanie in der Morgenstunde

Was haben die Leute doch für eine naive Vorstellung vom Schauspielerberuf?

Die meisten stellen sich vor, da müsse man unweigerlich extrovertiert sein, gescheit und belesen, nie um ein auswendiges Bonmot verlegen. Ein amüsanter Wüterich, der die Bühne braucht, um die ihm innewohnende kosmische Energie auszutoben. Wenn er nicht auf den Brettern Dampf ablassen könnte, würde er vermutlich im Knast sitzen. Oder wäre wenigstens inzwischen explodiert! So sieht es aus: Ein Schauspieler ist ein Vulkan, notdürftig zugestöpselt von der harten aber beglückenden Arbeit in den Bergwerken fremder Seelen!

Wenn man selbst Schauspieler ist, weiß man natürlich, dass das in den seltensten Fällen zutrifft. So schlimm sind wir gar nicht. Leider. Die meisten von uns sind froh, wenn sie ihre Ruhe haben – und damit unterscheiden wir uns nicht wesentlich von Buchhaltern, Zahnärzten oder Kassiereinnen.

Der Schauspieler ist ein Wiederkäuer, ein Mensch, der damit zufrieden ist, dass man ihm ein Reclam-Heftchen – oder lieber noch: ein Drehbuch – in die Hand drückt, ihm sagt, wo er sich hinstellen soll und einen Scheinwerfer auf ihn richtet! Er ist im tiefsten Innern faul, ihm graust es geradezu vor der Verantwortung, selbst etwas erfinden zu müssen. So würde er das natürlich nicht ausdrücken. – „Schau’n Sie, ich komm einfach nicht dazu, ich meine, man hat ja so viel damit zu tun, Angebote zu sichten, Bücher zu lesen, Text zu lernen usw. usf. … Sicher – wenn ich wollte, jaaa – also, wenn ich erst einmal anfangen würde zu schreiben, dann … dann wäre ich ein Klassiker, bevor Sie Papp gesagt haben. … Übrigens: ich hätte so wahnsinnig gern Kabarett gemacht. Hab ich das schon erwähnt? …“

Aber seine Bequemlichkeit treibt ihn in die Abhängigkeit. Eine Zeitlang kann er sich diesen würdelosen Zustand gemütlichreden – genau so lange, bis die wirklich kreativen Jahre hinter ihm liegen, bis der letzte jugendliche Schmelz an ihm heruntergekleckert ist – und dieser Schmelz ist verdammt wichtig, um neue Türen zu öffnen und Krisen zu überwinden.

Eines Morgens wacht der Schauspieler also auf und sieht zu genau hin, als er vor den Spiegel tritt. Um sich vom traurigen Zustand seines Teints und seiner nicht länger wallenden Haarpracht abzulenken, ruft er nach vorn: man müsste mal was Eigenes machen! Ja, das müsste lustig sein! Also sieht er – quasi durch den Badezimmerspiegel hindurch – in sich hinein. … Das Dumme ist nur … da ist nichts Eigenes.

Es nagt an ihm. Kein noch so großer Erfolg der zurückliegenden Jahre, kein Ansehen, kein bescheidener Wohlstand kann verhindern, dass sich nun eine Wüste in ihm auszubreiten beginnt, das Missvergnügen darüber, dass er als Künstler immer nur in der Durchreiche zwischen dem Schöpfer und dessen Konsumenten gesessen hat. Was tut der Schauspieler nun, um dieser elenden, bleischweren Frustration zu entkommen?
Er klappt die Tür des Badezimmerschranks auf, denn das ist die kleinste Bewegung, mit der sich dem eigenen Spiegelbild ausweichen lässt.
Nun tut sich der trostlose Inhalt des Schränkleins vor den Augen des Mimen auf: eine Ostzone! Mangel aller Art. Fehlende Ersatz-Rasierklingen, fehlender Rasierschaum, fehlende frische Zahnbürsten – all das repräsentiert von leeren Verpackungen sowie abgenutzten Rasierklingen, Zahnbürsten usf.

Gerade will der Schauspieler bis drei Zählen, für einen Augenblick die Augen schließen und die Tür mit einem Ruck wieder zumachen, um sich dann zum Bett zurückzutasten – es lohnt gar nicht, die Augen wieder aufzuschlagen – und sich dann noch einmal umzudrehen, da fällt sein Blick auf ein sinnloses, räudiges Tiegelchen, das er völlig vergessen hatte. Was ist denn das, wo kommt es her?
Er nimmt die kleine, unbeschriftete Dose heraus, schraubt sie auf und sieht hinein. Eine bräunliche Schmiere ist drin. Da dämmert vor seinem inneren Auge der Tag herauf, an dem er dieses Gefäß erhielt. Es war ein älterer Kollege, mit dem er in einer Künstlerkneipe zusammengesessen hatte, in seiner Heimatstadt im Südwesten, die ihm damals schon zu eng geworden war. Diese ganze flausenreiche Zeit des Aufbruchs dampft ihm nun aus der kleinen runden Öffnung ins Gesicht, Gaukelbilder von einstigem Überschwang, der Vorfreude auf die zahllosen Groupies (von denen er allerdings keine rechte Vorstellung hatte, wie sich zeigen sollte) und von vielen, vielen ungespielten Rollen, die in der großen Republik auf ihn warteten.
Er lässt diese Dämpfe sein verlebtes Antlitz umspielen, nimmt ihren Duft in sich auf – den charakteristischen Kneipenmief, der sich verblüffenderweise über Nacht immer wieder restlos aus den Klamotten auslüften ließ.

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