Wildgruber auf Sylt: Epiphanie in der Morgenstunde (2)

„Wildgruber auf Sylt“ ist der dritte Teil von Cadwiller Oldens „Hamburger Trilogie“. Der im Titel genannte Künstler kommt im Stück nicht vor (– wie auch Witta Pohl in „Butter für Frau Pohl“ nicht persönlich auftritt). Das Stück spielt nicht einmal auf Sylt. Aber der moderne Filmklassiker „Fargo“ spielt ja auch nicht in „Fargo“ und „Wanderer, kommst du nach Spa“ nicht in Spa. In diesem Sinne …

Fortsetzung vom 16. März

Als sich die Wolken verziehen, sieht er den früheren Besitzer der Dose am Tisch sitzen, einen älteren Kollegen – älter als er damals, jünger als er heute. Es ist Anders Eisenheinz, Chef des örtlichen Kinder- und Jugendtheaters. Er trinkt zuviel, so auch heute wieder, nimmt aber aufgrund seiner winzigen schmächtigen Gestalt in diesem Zustand niemals bedrohliche Züge an, sondern richtet seine Feindseligkeit – und er ist zuallererst sein eigener Feind – nur umso verkniffener auf sich selbst. Ist ein junger Kollege anwesend, den er mit seinen Ansichten und Erlebnissen noch in Erstaunen versetzen kann, dann lässt er kurz von seinem Opfer ab.
„Ich habe Dir etwas mitgebracht!“ sagt er nun und beginnt Luft zu holen für eine jener Rätselmoderationen, die er so sehr liebt.
Er stellt ein Creme-Tiegelchen auf den Tisch, von dem er das Plastik-Etikett sorgsam heruntergeschabt hat. „Da drin befindet sich eine magische Wunderpaste“, fährt er fort, „die du nicht im Laden kaufen kannst. Ich habe sie selbst zusammengemischt, das ist mindestens fünfzehn Jahre her.“
Artig gibt ihm sein Gegenüber die gehörigen Stichworte: „Aha. Soso. Isjadoll!“
„Eines Tages wollte ich damit ganz groß rauskommen. Ich wollte die Büchse aufschrauben, sobald die Stunde gekommen ist. Das erste Vorsprechen bei einem dieser Regietheaterfuzzis. Du weißt schon, diese grauenvollen Typen, die es für altmodisch halten, wenn man eine Kulisse hinstellt, die zum Stück passt, und sich Kostüme nähen lässt.“
Der Zuhörer schweigt, denn er weiß nicht, was das Wort „Regietheater“ bedeutet. Ist das überhaupt ein richtiges Wort? Beim Theater wird doch üblicherweise Regie geführt. Das ist wohl so ein Wort, das man erfindet, wenn man beim Scrabble betrügen will, so etwas wie „Schwanzhund“ oder „Flaschenpommfritt“. Was also soll dieser Schwachsinn bedeuten? Jedenfalls darf man Eisenheinz nicht widersprechen, wenn er diesen Grad an Rührseligkeit erreicht hat.
„Ich wollte diese Paste benutzen, wenn der große Zampano gar nicht damit rechnet!“ fährt Eisenheinz fort. Er sagt nicht, wie er sie benutzen wollte, aber das kann ja noch kommen. „Dann hätte ich mich vor ihn hingeworfen wie ein Schlachtopfer, zu allem bereit! Alle Viere aufwärts von mir gestreckt. Verfügt über mich, Herr! Macht mit mir, was ihr wollt! Lasst den Pöbel mich mit Sahnetorten, mit Kraftausdrücken, mit faulen Eiern und Tomaten bewerfen, womit ihr wollt. Hauptsache, ihr tut es, solange der Vorhang noch oben ist. Ich habe keine Selbstachtung, wenn ich da oben stehe. Hauptsache, alle glotzen mich an!“
Das ist wieder einer dieser Monologe, in denen der alte Knabe sosehr bei sich selbst ist, dass ihm niemand folgen kann. Es wäre sicher ungesund, ihm jetzt zu folgen.
Mit zittriger Hand, leise wimmernd, das Gesicht in der Armbeuge vergraben, schiebt der Ältere dem Jüngeren das schmuddelige Ding rüber. Erratische Klagefetzen dringen noch aus dem verknoteten Kopfsalat herauf, der auf der Tischplatte bibbert wie ein Wackelpudding. „Aber plötzlich 38 … wird nichts mehr … falsch abgebogen … Drecksnest …“

Der Schauspieler sieht diese berührende Szene in allen Einzelheiten vor sich. Genauso ist es gewesen. Er hat sich bedankt und – mit leichtem Schaudern – das Töpfchen eingesteckt, mit dem festen Vorsatz, es außer Sichtweite sogleich in einen städtischen Müllbehälter zu versenken. Doch danach hat er es sofort vergessen. Und er hat auch vergessen, es später wegzuschmeißen.
Wie ist es bloß aus der Jackentasche in den Badezimmerschrank gekommen? Muss wohl in einem der zahlreichen Filmrisse geschehen sein, die der Meister inzwischen selbst vollführt hat.

Da wird ihm bewusst, dass er es immerhin weiter gebracht hat als Gevatter Eisenheinz. Gewiss – auch er ist ein paarmal falsch abgebogen, aber immerhin: in die Großstadt hat er es geschafft. Und er befindet sich sogar im Ensemble eines angesehenen Hauses. Und sein Regisseur ist einer dieser Regietheater-Typen. Denn tragischerweise gibt es dieses Wort tatsächlich.

In diesem Augenblick beginnt das Tiegelchen in der Hand des Schauspielers zu pulsieren, als ob es lebte oder sagen wir: als ob es gerade wiedererwacht wäre. Und der es hält, weiß sogleich, was er damit zu tun hat. Er wird sich auf der nächsten Probe die Kleider vom Leib reißen und sich vor aller Augen mit dem Inhalt vollschmieren. Und genau so – nackig und vollgeschmiert – wird er die Probe fortsetzen. Und im gleichen Zustand wird er auch das Stück spielen, sämtliche Aufführungen von „Nathan der Weise“, einer modernen Inszenierung in Waschbetondekoration, die auf einem sinkenden Ozeandampfer spielt. Und wenn sein Regisseur zu ihm sagte, er möge sich die anzünden, „Es brennt! Es brennt!“ rufen und sich die große Freitreppe herunterrollen lassen, dann würde er auch das tun! Zum allgemeinen Jubel.
Jawohl, er würde den bereits recht angejahrten Begriff von zeitgemäßer Inszenierungskunst vervollständigen und für die nächsten Jahrzehnte zementieren!

Noch am selben Tag beginnt für den Schauspieler ein neues Leben! Beim Publikum sieht die Sache anders aus.

Dieser Beitrag wurde unter Buchauszug, Theater abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert