Keimzelle ist auch Zelle – Familienglück als Ideal und Schreckgespenst (1)

Die zweite Ehe des Vaters ist durch ständige heftige Streitereien gekennzeichnet. Zuweilen geht es bei den Zeligs so laut zu, dass die Kegelbahn über der sie wohnen, sich über ihren Lärm beschwert. Als Junge wird Leonard häufig von Antisemiten schikaniert. Seine Eltern, die sich nie für ihn einsetzen und ihm für alles die Schuld geben, stellen sich auf die Seite der Antisemiten. Oft schließen sie ihn zur Strafe in einen dunklen Wandschrank ein. Wenn sie besonders wütend sind, gehen sie mit ihm hinein.

Woody Allen in „Zelig“, 1982

Denn so von Herzen hundsgemein
kann auf der ganzen Welt kein Fremder sein.


Kurt Tucholsky: „Fang nie was mit Verwandtschaft an“, 1921

Im Sozialkundeunterricht hat man uns vor vielen Jahren beigebracht, dass die Familie die Keimzelle unserer Gesellschaft sei, ihr Kern, ihre wichtigste Stütze – und was der Superlative mehr sind. Etwa um die selbe Zeit begriff ich endgültig, dass es zumindest in meinem Elternhaus nicht immer perfekt zugeht. Die Illusion der selbstverständlichen Annahme, zu der die meisten von uns erzogen wurden, die eigene Familie sei die beste, bröckelte mehr und mehr. Mein älterer Bruder hatte es schon sehr frühzeitig begriffen und uns Kleinere mit seinen bösen (und wirklich komischen) Scherzen irritiert –ohne später selbst auf die Gründung einer Familie zu verzichten.

Nachdem meine Sinne nun für diesen Widerspruch geschärft waren – hier die offizielle Idealvorstellung der Schule, dort die Mühsal der Ebene, gefüllt mit Generationenkonflikt, Missverständnissen und der Erkenntnis, dass man sich seine Verwandten nicht aussuchen kann – bemerkte ich, dass es vielen meiner Mitmenschen ganz genauso geht. Besonders deutlich in der Vorweihnachtszeit, wenn mir mehrstimmig vorgejammert wurde, nun müsse man wieder aufs Land fahren und dort ein paar schrecklich unauthentische Tage verleben.
Doch das munterte mich kaum auf. Wie so oft war die Kunst meine Trösterin.

In den fiktionalen Medien und ihren Vorläufern in Theater und Weltliteratur war das Nicht-Funktionieren der Familie einer der wichtigsten Motoren der Handlung, die Quelle beinahe aller Konflikte, wenn man sie wirklich zu ihrem Ursprung zurückverfolgt. In gewisser Weise bewahrheitete sich auch hier der Merksatz aus dem Sozialkundeunterricht: das Theater der Antike, die modernen Dramen von Ibsen bis Albee und Tennessee Williams, die großen Erzähler von Kafka bis John Updike, die gesamte Südstaatenliteratur, Satiriker vor und nach Wilhelm Busch, unzählige Filme und Serien von Ingmar Bergman bis zum „Denver-Clan“ wären aufgeschmissen gewesen ohne diese Keimzelle aller Neurosen und Rachefantasien, von den Komödien, Sketchen und  Sitcoms gar nicht zu reden. Abgesehen von der Wahrheit, die solcher Satire innewohnt, ist es auch die blanke Logik: Fremde kommen gar nicht nahe an uns heran, um auf diese Weise zu piesacken. Wir würden ihnen was husten und sie stehenlassen. Eine bestimmte Art von dauerhaftem Psychoterror, der auf guter Kenntnis der Persönlichkeit und der wunden Punkte des Gegenübers sowie auf räumlicher Nähe aufbaut, ist eben nur im trauten Zuhause möglich.

Dies ist ein Auszug aus dem Essay „Humor Omnia Vincit“

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