Humor – Eine Frage des Standortes (2)

Fortsetzung vom 14.7.2021

Wer ein richtiger Kabarettist war, hätte eigentlich nach West-Berlin gehen müssen. In der Frontstadt war man dem Klassenfeind wie auch der Geschichte am nächsten. Das konnten natürlich nur Solisten tun. Damit wären wir wieder bei Wolfgang Neuss, der in den 60er Jahren rübermachte. Doch Berlin veränderte ihn. Der dortige Antikommunismus nahm ihm den Wind aus den Segeln. Neuss verschratete und verzottelte, haschte, ließ sich die Zähne ausfallen, wohnte auf einem kargen Fußboden und verachtete sein früheres Leben und seinen früheren Erfolg.
Nach Berlin zu ziehen, war damals überhaupt sehr angesagt, auch unter Privatleuten, die diese Maßnahme gern mit politischer Aufmüpfigkeit verbrämten. Besonders bei jungen Männern, die so der Wehrpflicht von der Schippe sprangen oder (etwa als Homosexuelle) in der westdeutschen Heimat Probleme mit dem biederen Landleben hatten. Berlins Ruf als angesagtes Pflaster war unter den damaligen Vorzeichen der deutschen Teilung ganz ähnlich wie heute. Man zog dorthin, um sein Leben aufzujazzen und seine alten Phantome und Furien loszuwerden. Viele kamen dort – Neuss nicht unähnlich – unter die Räder. Es reichte oft nur für Beendigungen: „Studium abgebrochen, Freundschaften abgebrochen, Fingernägel abgebrochen“ (Lisa Politt). Die Ausrede gab’s gratis: der Kiez hat mich kaputtgemacht.

In der Comedy der frühen 90er war Köln zunächst der Ort der Verheißung, das Arkadien, in das hinübersiedelte, wer es zu etwas bringen wollte (und nicht bereits im Ballungsgebiet wohnte). Sobald Berlin sich zu Hauptstadt und Regierungssitz mauserte, war seine Rolle als einzig wahrer Wohnort für die (Klein-)Kunst- und Medienschaffenden rasch wieder hergestellt. Als Thomas Hermanns gemeinsam mit seinem „Quatsch Comedy Club“ von Hamburg nach Berlin ging, folgte ihm ein gutes Dutzend hanseatischer Komiker. Sogar der Hausfotograf des Clubs zog ihm nach.

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