Die wiedergefundene Textstelle: „Roots“

betr.: 100. Geburtstag von Alex Haley

Ehe Alex Haley mit seinem Bestseller „Roots“ die Geschichtsschreibung der USA um ein sehr umfassendes Kapitel ergänzte, arbeitete er als Journalist. Von den beiden wichtigsten schwarzen Bürgerrechtlern hat ihm der aggressivere der beiden eine wichtige Inspiration vermittelt: Malcolm X lehnte es ab, sich mit seinem offiziellen Familiennamen anreden zu lassen. Schließlich gehörte dieser Name nicht seinen Vorfahren, sondern dem Sklavenhalter – dem „Masser“ -, der sie besessen und ausgebeutet hatte. Seinen richtigen Namen kannte er nicht – wie die meisten Afroamerikaner.
Glücklicherweise stammte Alex Haley aus einer Familie, die den Namen ihres afrikanischen Urahnen zweihundert Jahre lang überliefert hatte. Bald sollte ihn die ganze Welt aus Haleys Buch erfahren: Kunta Kinte.

Was ich von den Gesprächen der greisen Damen aufschnappte, machte auf mich den Eindruck, es müsse vor unendlich langer Zeit passiert sein. Wenn eine mit dem Zeigefinger auf mich zeigte und sagte: „Damals war ich gerade mal so alt wie dieses Bürschchen da“, kam es mir aberwitzig vor, dass jemand so Altes und Verhutzeltes je so klein gewesen sein sollte wie ich.
Das meiste von dem, was sie sagten, habe ich kleiner Junge gar nicht verstanden. Ich wusste zum Beispiel nichts mit „alter Masser“ oder „alte Missis“ anzufangen. Der Begriff „Plantage“ schien mir irgendetwas mit einer Farm zu tun zu haben. Doch da ich die Geschichten jeden Sommer von neuem hörte, prägten sich mir die Namen ein und die Ereignisse, die mit ihnen zusammenhingen. Die entfernteste all dieser Figuren war ein Mann, den sie „den Afrikaner“ nannten. Sie wussten zu berichten, dass er mit einem Schiff in dieses Land gebracht worden war. An einen Ort, den sie „Naplis“ aussprachen. Sie sagten, vom Schiff herunter habe ihn ein gewisser Masser Scott Waller eingekauft, ein Farmer aus „Spotsylvania County, Virginia“. Es hieß, der Afrikaner habe zu fliehen versucht, und die beiden weißen Sklavenjäger, die ihn beim vierten Mal eingefangen haben, wollten wohl ein Exempel statuieren. Sie stellten ihn vor die Wahl, sich kastrieren oder sich den Fuß abhacken zu lassen. Und – „Dank sei Jesus, dem Herrn, sonst könnten wir jetzt nicht hier sitzen und drüber reden“ – wählte er den Fuß. Ich konnte mir einfach nicht ausmalen, warum Menschen etwas so Schlimmes und Gemeines tun sollten.
Aber dann rette Masser Johns Bruder das Leben des Afrikaners, wie die Damen erzählten, Dr. William Waller, der die sinnlose Verstümmelung nicht einsah und den Afrikaner für seine eigene Plantage kaufte. Obwohl der nun ein Krüppel war, konnte er sich doch noch nützlich machen, und der Doktor wies ihm die Pflege des Gemüsegartens zu. So blieb der Afrikaner sehr lange auf der selben Plantage, während Sklaven, besonders männliche, damals andauernd weiterverkauft wurden, was zur Folge hatte, das Sklavenkinder kaum je erfuhren, wer ihre Eltern waren. Großmutter und die anderen unterhielten sich darüber, dass die, die mit den Sklavenschiffen kamen, meistens neue Namen von ihren Massers erhielten. Der Afrikaner sollte nun „Toby“ heißen, aber hat den anderen Sklaven gegenüber darauf bestanden, „Kin-Te“ genannt zu werden. Er humpelte herum, machte seine Gartenarbeit, stieg zum Kutscher seines Massers auf, lernte eine Sklavin kennen und heiratete sie. Großmutter und ihre Freundinnen nannten sie „Belle, die Herrschaftsköchin“.
Der Afrikaner und die Köchin hatten ein kleines Mädchen, das sie „Kizzy“ nannten. Als sie vier oder fünf Jahre alt war, brachte ihr Vater ihr einige Wörter seiner Muttersprache bei. Eine Gitarre nannte er „ko“. Den Fluss in der Nähe der Plantage – es war der Mattaponi River – nannte der „Kambi Bolongo“. Und so weiter. Als Kizzy älter und das Englisch ihrs Vaters besser wurde, erzählte er von sich, seiner Heimat und seinem Volk – und davon, wie er geraubt worden war, als er in einem Wald in der Nähe seines Dorfes Holz für eine Trommel hacken wollte. Vier Männer haben ihn überwältigt und verschleppt.
Mit sechzehn Jahren wurde Kizzy an einen Herrn mit Namen Tom Lea verkauft, der eine kleine Plantage in North Carolina besaß – so berichteten es die alten Damen. Dort brachte Kizzy einen Jungen zur Welt, den sein Vater – Tom Lea – George nannte.
Als George so an die vier, fünf Jahre alt war, fing seine Mutter an, ihm die Geschichten, aber auch einzelne Wörter ihres afrikanischen Vaters weiterzuerzählen, bis er sie genau kannte. Später, George war ungefähr zwölf, hörte ich auf Großmutters Veranda, wurde er Lehrling bei einem gewissen „Onkel Mingo“, der die Kampfhähne seines Herrn betreute. Mit 16 hatte der Junge einen so fabelhaften Ruf als Trainer dieser Tiere, dass ihm die anderen einen Spitznamen gaben, den er nicht mehr loswerden sollte: „Chicken-George“.
Etwa mit 18 traf George das Sklavenmädchen Matilda, die er heiratete und die ihm acht Kinder gebar. Bei der Geburt jedes neuen Kindes, so wussten Großmutter und die anderen, habe Chicken-George seine Familie um sich versammelt, um wieder von dem afrikanischen Ururgroßvater zu erzählen, der „Kin-Te“ hieß, eine Gitarre „ko“ und einen Fluss in Virginia „Kambi Bolongo“ nannte.
Die acht Kinder wuchsen heran, heirateten und bekamen eigene Kinder. Der vierte Sohn, Tom, war Schmied, als man ihn zusammen mit dem Rest der Familie an Masser Murray verkaufte, der eine Tabakplantage in Almanance County, North Carolina, bewirtschaftete. Dort traf und heiratete Tom die halb-indianische Sklavin Irene, die vom Besitz eines gewissen Masser Holt stammte. Der hatte eine Baumwollspinnerei. Auch Irene bekam mit der Zeit acht Kinder, und mit jeder neuen Geburt setzte Tom die Tradition fort, die sein Vater Chicken-George begründet hatte – nämlich am Herdfeuer von ihrem afrikanischen Urgroßvater zu erzählen und von allen, die von ihm abstammten. 

Auszug aus einem der letzten Kapitel von „Roots“, der fürs Fernsehen verfilmten Familiensaga, die 1976 – pünktlich zum 200. Geburtstag der USA, erschien, eigene Übersetzung.

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