Kommissköppe im Lockdown

betr.: Jens Wawrczecks Hörbuch „Spiegelbild im goldnen Auge“

Carson McCullers wird seit einer entsprechenden Einordnung ihres Fans Tennessee Williams der „Südstaaten-Gotik“ zugerechnet. Damit sind morbide Familiendramen gemeint, die mich in den erbarmungslosen Konsequenzen der geschilderten neurotischen Handlungen ein wenig an Henrik Ibsen erinnern (kurzum: ein großer Spaß!).  Die kränkliche und schwer geprüfte Schriftstellerin starb um die Zeit, als der Verfilmung ihres zweiten Romans „Reflections In A Golden Eye“ das gleiche Unrecht widerfuhr das schon ihr Buch getroffen hatte.* Dem Film, der sich präzise an die Vorlage hält, wurde die vorwurfsvolle Frage gestellt, warum er derart abseitigen und verschrobenen Figuren soviel Aufmerksamkeit schenkt. Spätestens beim Anhören dieser Lesung lösen sich solche kleinkarierten Einwände in Luft auf. Die Erzählerin begegnet ihren Figuren mit so viel Nachsicht, dass es uns selbst überlassen bleibt, ob und wie viel Verständnis wir aufbringen möchten. Und das gelingt uns am Ende häufiger als wir es uns selbst zugetraut hätten. (Williams hat McCullers‘ Prosa mit der von Herman Melville verglichen, der seiner Zeit sogar noch einige Jahre weiter voraus war und der die gleichen Anfeindungen erlebte.) Immerhin wird uns gleich zu Beginn klargemacht, dass sich die Figuren in einer Ausnahmesituation befinden: „in einer Garnison in Friedenszeiten“. Es ist diese komfortable Eintönigkeit, die die Charaktere unterfordert, die sie auf ihre seelischen Untiefen auflaufen lässt – Charaktere, die eine militärische Struktur gewohnt sind. (Haben wir nicht alle von den Familien gehört, bei denen in der Pandemie ein Lagerkoller ausgebrochen ist?) In einem Kriegszustand hätten sie funktionieren müssen, und vermutlich wäre nichts vom hier Geschilderten passiert. Sondern weitaus grauenvollere Dinge.
   
„Spiegelbild im goldnen Auge“ wurde schon vor anderthalb Jahren von Jens Wawrczeck aufgenommen, aber die McCullers-Erben hatten die Formalitäten immer wieder unterbrochen, und so erschien das Hörbuch erst im Oktober. Wie schon bei seinen Hitchcock-Hörbüchern leuchtet der Sprecher einen Film weiter aus, den ich gut zu kennen glaubte.* Das leistet das gedruckte Buch zwar auch – es ist 2011 von Diogenes in einer hübschen McCullers-Kassette neu aufgelegt worden -, doch die Lesung rückt uns noch näher an die Figuren heran, ohne die Fairness zu hintertreiben, die die Erzählerin walten lässt. Man fühlt sich ein bisschen wie Private Ellgee Williams, der unbemerkt dicht neben Leonoras Bett kniet. Anders käme man unmöglich in den Genuss solcher Eindrücke wie in Kapitel III. Da liefert uns Jens Wawrczeck eine Vorstellung, die sich an dieser Stelle unmöglich beschreiben lässt. Die Szene, in der zwei Damen eine Abendgesellschaft planen, ist in ihrer Lebensnähe so komisch, dass mir selbst unter den von mir geschätzten Sprecherinnen keine einfällt, die so gut hinbekommen hätte.

_______________________
* Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2017/12/29/die-schoensten-filme-die-ich-kenne-56-spiegelbild-im-goldenen-auge/

Dieser Beitrag wurde unter Film, Gesellschaft, Hörbuch, Literatur abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert