betr.: Lesen vom Blatt / Sprechen am Mikrofon
Das Semikolon (auch Strichpunkt) ist ein lange gern vermiedenes Satzzeichen, das als Teil des Zwinkersmileys eine Art digitale Alterskarriere gemacht hat.
In den Fließtexten des Alltags – so auch in Lesemanuskripten – kommt es praktisch nicht vor. Das wäre nicht unbedingt der Rede wert, gäbe es nicht andererseits eine fröhliche Konjunktur von Schachtelsätzen, bei deren Bewältigung ein Semikolon oftmals hilfreich wäre. Viele Freunde des Bandwurmsatzes gliedern ihre Arbeiten nämlich ausschließlich mit einem Komma. Das ist ab dem Moment unpraktisch, wo sich die sprichwörtlichen Schachteln öffnen und schließen, es also zu Sätzen kommt, die ineinander eingebaut sind und in denen wieder andere Sätze stecken. Ich selbst (in diesem Zusammenhang frei von jeder Unschuld*) löse dieses Problem, indem ich neben Kommata auch Gedankenstriche und Klammern einsetze. Jeder Binnengedanke bekommt sein eigenes Satzzeichen zugeteilt, was ich sehr übersichtlich finde. Es kommt vor, dass mir meine Lektoren und Redakteure diese Vielfalt neiden und darin herumstreichen. Ich wehre mich (meist erfolgreich, weil ich ja gute Argumente habe) und stelle dann nebenbei fest, dass auch ich häufiger mit dem Semikolon arbeiten könnte.
Ich mag dieses Satzzeichen nämlich außerordentlich gern.
Das habe ich gemeinsam mit Lene Albrecht, Daniele Sallenawe, Deniz Ohde, Jan Koneffke, Michael Lentz, Christian Morgenstern, Theodor W. Adorno, Thomas Willmann, Heinrich von Kleist, Thomas Mann und Marcel Proust, während Thea Mengeler, Emanuel Bergmann, Maxim Leo, Matthias Jügler, Valerie Fritsch, Jasmin Ramadan, Ludwig Wittgenstein und die Übersetzerin G. E. M. Anscombe es offen ablehnen oder doch so selten verwenden, dass ich von einer Antipathie ausgehen würde. Irgendwo dazwischen sitzen Kurt Vonnegut (der es zu Beginn seines Werkes schätzte und zuletzt ablehnte) und Raymond Chandler (der es in seinen Essays gern verwendete, es für seine Marlowe-Krimis aber unpassend fand).
Was spricht neben seiner strukturierenden Qualität noch für das Semikolon – etwa im Vergleich zu Klammern und Gedankenstrichen? Zunächst einmal, dass es vielseitiger ist als diese und in seiner Flexibilität nur vom Fragezeichen übertroffen wird.* Iris Wolff meint, das Semikolon vereine „das Beste“ der von ihm vereinten Zeichen, nämlich die „Klarheit des Punktes und das sich verzweigend aneinanderreihende des Kommas“. „Es lässt dem Satz Raum, sich zu öffnen, deutet Verbindungen an, ohne sie zu behaupten, und ist letztlich Symbol der Ambivalenz, des Sowohl-als-auch“, erklärt Rainer Moritz – und weiß auch, was so viele andere daran stört: „Deshalb, so scheint es, ist es nichts für die, die Offenheit nicht auszuhalten vermögen, die nach dem Eindeutigen streben und Nuancen misstrauen.“
Er weiß auch, wer dieses Satzzeichen erfunden hat und wann: der Venezianer Aldus Manutius im 15. Jahrhundert.
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* „Lange Sätze“ können viel Freude machen. In der gleichnamigen Serie werden aber auch abschreckende Beispiele nicht verheimlicht, etwa dieses hier: https://blog.montyarnold.com/2023/09/30/david-foster-wallace/
** Das Fragezeichen ist nämlich vielseitiger als man denkt, siehe https://blog.montyarnold.com/2017/09/16/ixen-fuer-anfaenger-vom-umgang-mit-dem-fragezeichen/