Das Zeitalter der nachwachsenden Geheimnisse

betr.: 111. Jahrestag des großen Erdbebens von San Francisco

Das Beispiel Karl May führt uns vor Augen, dass der Nimbus eines Schriftstellers Schaden nimmt, wenn man allzuviel über ihn und sein Leben weiß. Das ist ein wenig unfair, da es schließlich eine wesentliche Aufgabe des Erzählers ist, sich Geschichten auszudenken. Doch auch beim Fantasieren spielt Glaubwürdigkeit  eine nicht zu unterschätzende Rolle. Schließlich muss es dem Autor gelingen, über seinen eigenen Horizont hinauszugelangen.
Das wusste B. Traven, der sich bei der Verschleierung seiner Identität(en) sogar das Erdbeben in San Francisco zunutze machte, bei dem sämtliche standesamtlichen Unterlagen zerstört wurden. Er brachte es fertig, aus seiner Biographie weit über den eigenen Tod hinaus ein großes Geheimnis zu machen. Auch die Lebensgeschichte des Comic-Künstlers Hugo Pratt* ist ein lustvolles Mysterium: er verwendete gleichviel kreative Fantasie auf die Erschaffung der Biographie seines Helden Corto Maltese wie auf seine eigene. Beide Herren waren allerdings unbestritten weitgereist und in überaus bewegte Zeiten geworfen, was sie – im Gegensatz zu Karl May – mit dem nötigen Duft von Authentizität und Abenteuer versorgte. Der legendäre Hollywoodstar und Regisseur Orson Welles ist ein besonderer Fall: bei ihm bilden ein wechselvolles Leben und die eigene Interpretation desselben ein Kunstwerk für sich.

Ein Phänomen unserer Tage spielt diesem Bedürfnis nach persönlichem Enigma in die Hände: seit gut zehn Jahren werden unentwegt systematisch Archive geschreddert, deren Digitalisierung den Verantwortlichen zu mühsam erscheint und die den physischen Platz nicht länger opfern möchten. Selbst wenn es nicht wie im Jahre 2009 in Köln zum Zusammenbruch eines ganzen Stadtarchivs kommt, wird unentwegt durch Kassation** Raum geschaffen – auch bei Sendern, Zeitungen und Zeitschriften, in Bibliotheken und natürlich im Rahmen des Hinschieds von privaten Sammlern.
Diese Vorgehensweise folgt der Theorie, alles wirklich Wichtige bzw. letztlich Relevante sei ohnehin irgendwo abgelegt und über kurz oder lang sogar online Verfügbar. Das kann zwar kein vernünftiger Mensch allen Ernstes glauben, aber Sparwillen und Bequemlichkeit beruhigen hier manches Gewissen.
Weiterhin sind auch Datenträger nicht unsterblich – die Lebensdauer einer Festplatte wird allgemein mit 50 Jahren angegeben, wenn nichts dazwischenkommt. Als anschauliches Beispiel für die trügerische Sicherheit, die von einer solchen Speicherung ausgeht, ist die gute alte Schallplatte. Eine CD kann jederzeit ohne menschlich ersichtlichen Grund die Abspielbarkeit aufkündigen und ihren Inhalt mit in die Mülltonne nehmen.

Die Schlucht, in die all diese Werke, Erkenntnisse und Informationen stürzen, nenne ich den McLuhan-Graben. Nachfolgende Generationen – beginnend mit unseren Kindern / jüngeren Geschwistern – werden es einmal nicht fassen können, was wir alles weggeschmissen bzw. nicht aufbewahrt oder wenigstens gebackupt haben.

________________________
* Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2016/06/15/der-biographienverschwender/
** Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2015/01/29/ignoranz-und-hoehere-gewalt-oder-der-mythos-vom-archivbrand/

Dieser Beitrag wurde unter Film, Gesellschaft, Literatur, Medienkunde, Medienphilosophie abgelegt und mit , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert