„Giovannis Zimmer“ nochmals besucht

betr.: Neues Hörbuch von Jens Wawrczeck / Zeitgeschichte / Gesellschaft und Kultur

„Du denkst, dein Schmerz ist beispiellos in der Weltgeschichte. Bis du anfängst zu lesen.“

James Baldwin

Als ich „Giovannis Zimmer“ zum ersten Mal las, waren meines und das Leben der anderen gleichermaßen in Bewegung. Ich tauchte gerade aus einer eingeschüchterten Kindheit auf dem Dorfe auf, die ich schwulenpolitisch im wohlkonservierten Klima der Adenauer-Ära zugebracht hatte. Das Fernsehen, mein einziges Fenster zur Welt, zeigte Homosexuelle nur als Täter/Opfer in Krimis und Dramen oder als derangierte Jammergestalten in DidiHallervorden-Sketchen. Buchstäblich an meinem zweiten Abend in der Schwulengruppe der Klein- und regionalen Hauptstadt ereignete sich nun die Vermischung meiner Lage mit der der übrigen Welt: ein SPIEGEL- und ein STERN-Titel hatten das AIDS-Zeitalter offiziell ausgerufen. Das war nicht nur gruselig, es blockierte auch meine persönliche Entwicklung, denn niemand hatte unter diesem Schock die Muße, mich beim praktischen Teil meines Coming Out zu unterstützen. Wir alle fürchteten uns – nicht nur vor diesem Erreger, der damals noch HTLV III hieß. Wir waren in Sorge wegen einer rechtsdumpfen Propaganda, an deren Spitze der CSU-Politiker Peter Gauweiler stand. Er träumte allen Ernstes von einer Meldepflicht für Homosexuelle (= AIDS-Überträger), von Lagern, in denen man diese zu konzentrieren hätte, und da uns unlängst eine konservative Regierung gewählt worden war, hatten wir ganz schön die Hosen voll, damals, Mitte der 80er.

Mit JensWawrczeckMonty Arnold und Jens Wawrczeck blicken hinauf zu „Giovannis Zimmer“.

Immerhin hatte ich nun erstmals ein paar schwule Freunde, mit denen ich in die ersten britischen Homo-Filme gehen konnte. Mit „Das Gesetz der Begierde“ kam in dieser Zeit auch der erste Almodovár zu uns. Und ich bekam Buchtipps, las z.B. „Das Hotel New Hampshire“ von John Irving, Klaus Manns „Treffpunkt im Unendlichen“ und eben „Giovannis Zimmer“ von James Baldwin.

Die Identifikationsmöglichkeiten waren mit den Händen zu greifen: der Schauplatz war Paris – mein nahegelegener und doch so unbewohnbarer Sehnsuchtsort -, und auch ich hatte als Sohn einer Kirchenmusikerin und eines Dorfpolizisten wie der Autor meine fundamentalistische Grundabreibung erhalten. Meine ersten beiden Männer mussten zwar nicht unter die Guilliotine, aber sie sollten jener Seuche zum Opfer fallen, die man noch nicht einmal ansatzweise behandeln konnte. Immerhin war ich gegenüber dem David des Romans insofern im Vorteil, als es für mich nicht mehr in die Tüte kam, mein Schwulsein zu verbergen oder zu leugnen, aber seit dem Erscheinen des Romans waren ja auch knapp dreißig Jahre vergangen. Noch bei der deutschen Erstveröffentlichung des Textes 1963 wurde James Baldwin vom SPIEGEL als „US-Negerschriftsteller“ vorgestellt (was seinerzeit ja gar nicht böse gemeint war) und ihm immerhin attestiert, der „nach Richard Wright erfolgreichste“ seiner Art zu sein. Und immerhin wird Davids Wandlung vom Bisexuellen zum Homosexuellen sogar als „Läuterung“ bezeichnet.
Dieser David ist nun ein Weißer, wie gleich zu Beginn der Rahmenhandlung klargestellt wird. Da ist die Frau in seinem Leben bereits abgereist: er sieht aus dem Fenster eines Ferienhauses in Südfrankreich und durchlebt noch einmal, was geschehen ist. Nach einer schwulen Episode in seiner Jugend hatte er die Fassade der Bürgerlichkeit stabil um sich aufgerichtet. Dazu diente ihm die besagte Verlobte Helen. Als er – ohne sie – etwas Zeit in Paris verlebte, brachte der schöne Kellner Giovanni seine wahre Natur wieder zum Ausbruch. Er zog ein in Giovannis Zimmer – bis Helen zurückkehrte. Nun benahm sich David wie er es schon früher getan hatte: er kniff vor dem anderen und den eigenen Gefühlen aus, und das Schicksal konnte seinen Lauf nehmen.
Ein Wesensmerkmal des Ich-Erzählers, gleichsam der Motor der Geschichte, ist seine persönliche Annahme der Außenseiterrolle, die das Bürgertum ihm zugedacht hat. Als wir in der Schule Max Frischs „Andorra“ durchkauten (ein Stück, das mir bis heute eher auf den Nerv geht), machte unsere wunderbare Deutschlehrerin dem Protagonisten Andri den gleichen Vorwurf, und ich fand das etwas herzlos von ihr. Beim Wiederhören von „Giovannis Zimmer“ verstehe ich, was sie gemeint hat.

1985 war ich von der Zeitlosigkeit dieser Dialoge aus der Subkultur sehr angetan. Das bin ich auch jetzt wieder – mit einem mulmigen Gefühl. Gewisse Dinge scheinen sich eben nie zu ändern: die Gnadenlosigkeit, mit der belauert, „nicht aus den Augen gelassen“ und alles über dreißig als „peinlich“ und „ältlich“ wahrgenommen wird. Wer noch länger durchhält, endet beinahe zwangsläufig als zombiehaft, als „Mumie“. David fühlt sich am Abend der ersten Begegnung mit Giovanni fast geschützt durch seine bisher gelebte Hetero-Show. Er ahnt vielleicht, wie schwer es in der schwulen Welt ist, ein Mann zu sein – und das weniger wegen der Gefahr von außen.

Wie man sich erinnert, ist es für mich und meine Schwulengruppe besser ausgegangen als für die Helden dieser Geschichte. Zwar hat Helmut Kohl in seiner Rekord-Kanzlerschaft das Wort AIDS niemals öffentlich ausgesprochen, aber in seinem Kabinett befand sich mit Rita Süssmuth eine Gesundheitsministerin, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Schwulen sich nicht Richtung Dachau aufmachten, sondern in die Mitte der Gesellschaft – zumindest in diese Richtung.

Liner Notes zum neuen Hörbuch von Jens Wawrczeck, erschienen bei Audoba.

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