„Ich seh’ mir selber ins Geschicht und merke, ich gefall mir nicht!“

betr.: 115. Geburtstag von Gustaf Gründgens

Pro Minute werden einer beliebten Statistik zufolge 100 Stunden Videomaterial auf YouTube hochgeladen, was unbedingt eine gute Nachricht ist. Platzsorgen braucht uns das nicht zu bereiten, denn der Cyberspace ist bekanntlich grenzenlos. Immerhin: die Aufmerksamkeit des Betrachters ist endlich: jedes 12sekündige Skifahrer-Selfie drängt etwas anderes aus dem individuellen Blickfeld. Und so wird es unter den Lesern dieser Zeilen auch solche geben, die hier zum ersten Mal den Namen eines Mannes finden, der vor geraumer Zeit noch unsterblich war. Wenn Sie alt genug sind, um Gustaf Gründgens noch erlebt zu haben, hat Ihnen der heutige Beitrag also nichts Neues zu erzählen. Er versteht sich als nachträgliche Betrachtung dieser historischen Figur aus dem popkulturellen Blickwinkel.

Der Theatermann Gustaf Gründgens ist der heutigen Mediengemeinde am schnellsten über die “Faust”-Verfilmung von 1960 zugänglich, eine nach allgemeiner fachlicher Einschätzung unbefriedigende Übertragung dieses Werkes und dieser berühmten Inszenierung ins Filmmedium, aber nichtsdestoweniger ein unersetzliches Dokument. Gründgens tritt hier in der Rolle seines Lebens auf, was nicht nur auf seine jahrzehntelange ruhmreiche Beschäftigung mit dem “Mephisto” verweist, sondern auch auf die Alien-artige Wirkung dieses Darstellers selbst. Ich als Nachgeborener kann mir Gründgens gar nicht in der Rolle eines normalen Menschen vorstellen. Er wirkt in allen mir zugänglichen Film- und Tonaufnahmen schrill, grotesk und seltsam beladen auf mich. Nie gelingt es mir, ihn als Teil des Ensembles zu betrachten – er fällt stets (und wie mir scheint: mit voller Absicht) aus dem Rahmen, wenn dieser altmodische Ausdruck gestattet ist.
Gewiß: als Live-Erlebnis und zu seiner Zeit wird er völlig anders gewirkt haben, und sein Unterhaltungswert ist immens – ganz besonders heute, wo solche markanten Charakterköpfe von der Unterhaltungsindustrie gar nicht mehr zugelassen werden.

Gründgens schaffte es, über die gesamte Jahrhundertmitte hinweg als Schauspieler, Regisseur und Intendant das deutsche Theater zu prägen. Die mit dieser stolzen Bilanz zwangsläufig verbundenen zeitgeschichtlichen Untiefen und die sich daraus ergebenden Ressentiments hat Klaus Mann in dem Roman “Mephisto” zusammengefaßt, der uns später auch als international gefeierter Film begegnet ist. (Dass Gründgens mehr war als ein gewissenloser Opportunist wird hier ebenso unterschlagen wie seine Homosexualität.)

In Hamburg laufe ich mehrmals täglich an seiner letzten Wirkungsstätte vorbei, dem Deutschen Schauspielhaus – und mitunter weht die eine oder andere Ankedote herüber. Einem Ondit zufolge, gibt es dort im 1. Rang das „Gründgens-Kabinett“. In diesem Raum – versteckt und nicht ohne Weiteres zugänglich – ließ Gründgens „vorsprechen“, der Sage nach unter einem gläsernen Tisch liegend, auf dem der Anwärter (auf Wunsch nackt) zu agieren hatte. Mythisch umweht ist auch das Ableben des Meisters: „Ich habe, glaube ich, zuviel Schlafmittel genommen, mir ist ein bisschen komisch. Lasst mich ausschlafen“, stand auf dem Zettel, den man am 7. Oktober 1963 auf dem Nachttisch des Verstorbenen in einem Hotel in Manila fand. Unter seinen Verehrern, besonders unter denen, die noch persönlich mit ihm zu tun hatten, gilt es als unschicklich, einen Selbstmord anzunehmen.

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