Broadway’s Like That (16): Die Kunst des nicht-banalen Liebesliedes

4. Jerome Kern – Erfinder des Musicals (3) (Fortsetzung vom 1. Juli)

Zwei Jahre später – 1927 – entwarf Oscar Hammerstein II Libretto und Songtexte zu „Show Boat“, Kerns Hauptwerk und ein Meilenstein in der Geschichte des amerikanischen Musiktheaters.
Ein Show Boat ist ein Theaterschiff wie es im 19. und frühen 20. Jahrhundert die amerikanischen Flüsse befuhr. Die Schriftstellerin Edna Ferber hatte 1926 einen Roman über eine Theaterfamilie auf einem Mississippi Show Boat veröffentlicht, von dem sich Kern sogleich begeistert zeigte und den Hammerstein dann zur Musical-Vorlage umarbeitete. Edna Ferbers anfängliche Bedenken waren verflogen, nachdem Kern sie mit „Ol’ Man River“ zu Tränen gerührt hatte.
Auch Florenz Ziegfeld, der Produzent von „Show Boat“, war sich seines Erfolges nicht immer sicher. Doch er musste sich eines Besseren belehren lassen. „Show Boat“ war derart erfolgreich, dass es 1928 nach London ging, bereits 1932 ein erstes Revival erlebte und dreimal verfilmt wurde – im ersten Falle als Stummfilm (!).
Was „Show Boat“ zu etwas so außergewöhnlichem machte, war zum einen sein Vorwurf: ein in sich geschlossenes ernsthaftes Drama, das etwa auch Rassenfragen berührt. Das war durchaus realistischer als Operette und auch gar nicht zu vergleichen mit den leichtgewichtigen Musical-Comedy-Libretti jener Zeit.

Gleich die Eröffnungsszene führt die Rassenproblematik als Thema ein. Den konventionellen Eröffnungschor mit einer beinewerfenden Chorus Line wenden Kern und Hammerstein ins Unkonventionelle: hier treten ein schwarzer und ein weißer Chor gemeinsam auf, was zur damaligen Zeit übrigens äußerst ungewöhnlich war. Beide singen von „Cotton Blossom“ – Baumwollblüte. Die schwarzen Stauer und ihre Mädchen beziehen sich damit auf die schwere Arbeit mit den Baumwollballen, die Weißen – herbeieilende junge Damen und Herren des Ortes – auf den Namen des soeben eingelaufenen Show Boats.

Außergewöhnlich an „Show Boat“ war auch die Art der musikalischen Gestaltung. Musik und Drama stehen hier in einer engen Beziehung zueinander. Kern arbeitet mit Erinnerungsmotiven, die das Drama musikalisch verdichten. Sie finden sich etwa im ausgedehnten Underscoring, dem musikalischen Untermalen von Dialogen. Im Zentrum der Handlung steht auch in „Show Boat“ eine Liebesgeschichte. Wenn sich die Protagonisten Magnolia – die behütete Tochter der Show-Boat-Betreiber – und der professionelle Spieler Ravenal zum ersten Mal begegnen, lässt sich zum Beispiel erkennen, wie Kern die Handlung musikalisch weiterzuführen versteht. Bevor sich die beiden überhaupt gesehen haben, nimmt  – Ravenal und Magnolias Klaviermotiv musikalisch auf. “Make-Believe”, eine der originellsten Lösungen des Problems: wie schreibt man ein nicht-banales Liebesduett? Natürlich sind sie allgegenwärtig, die „drei kleinen Worte“, aber „wir tun nur so“. *
In einer zeitgenössischen Aufnahme von 1928 können wir Helen Morgan hören, die in der originalen „Show Boat“-Produktion und übrigens auch in der Verfilmung von 1936 die tragische Rolle der Mischlingsfrau Julie spielte und in dieser Rolle über Nacht berühmt wurde. Einer ihrer beiden eindringlichen Songs aus „Show Boat“ ist „Can’t Help Lovin’ Dat Man“, ein Stück fiktiver, komponierter schwarzer Folklore, ähnlich wie später „Summertime“ aus „Porgy And Bess“.

______________________________________
* Hammerstein stellte sich dieser Aufgabe 1945 in „Carousel“ abermals zum allgemeinen Applaus und textete „If I Loved You“.

Forts. folgt

Dieser Beitrag wurde unter Film, Gesellschaft, Musicalgeschichte, Musik, Musik Audio, Theater abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert