Die schönsten Filme, die ich kenne (70): „Der Marathon-Mann“

‚Babe‘ Levy ist ein unbedarfter Geschichtsstudent, der als Marathonläufer endlose Runden um das Wasserreservoir im Central Park dreht. Als Sohn eines Opfers der McCarthy-Ära hat er eine besondere Beziehung zu den Gespenstern der Vergangenheit. Umso weniger weiß er über seinen Bruder ‚Doc‘. Dieser überwacht für eine dubiose Geheimorganisation den ehemaligen KZ-Zahnarzt Christian Szell, der von Südamerika aus Geschäfte macht. Im Zuge eines Austausches gegen wertvolle Informationen genießt der weißhaarige Naziverbrecher den besonderen Schutz der Regierung. Der überraschende Tod seines Bruders zwingt Szell, sein Versteck zu verlassen und heimlich nach New York zu kommen, um den gemeinsamen Diamantenschatz sicherzustellen. Da er ‚Doc‘ misstraut, beseitigt er ihn, und als sich der sterbende Agent mit letzter Kraft zu ‚Babe‘ schleppt, muss auch dieser – als vermeintlicher Mitwisser – um sein Leben rennen. ‚Babe‘ fällt Szell in die Hände, und wird von ihm mit seinem altmodischen Zahnarztbesteck  gefoltert (- eine kurze, aber unvergessliche Szene). Nach einer dramatischen Flucht holt er zum Gegenschlag aus …

Ein paar Gepflogenheiten im US-Kino der 70er Jahre hatten sich noch aus der Zeit des Hays-Codes* erhalten. Eine davon verirrte sich auch in den meisterlichen „Marathon Man“ von John Schlesinger, und sie bildet den Grund, warum der Film nicht optimal gealtert ist: der Held hat grundgut zu sein und selbst dann nicht auf seinen Gegner zu schießen, wenn es im Interesse der nackten Selbsterhaltung liegt. Da ‚Babe‘ obendrein ein verschüchterter Kleinbürger ist, der vollkommen unerwartet mit den übelsten Gesellen aneinandergerät, treibt die Einhaltung dieser Regel einige Blüten, die die turbulente Logik der Geschichte weiter beschädigen. Zwar schreibt Levy seinem Bruder: „Nun habe ich zum ersten Mal in das Gefühl, dass ich die Kerle – wenn ich sie finden würde –  umbringen könnte“, doch es müssen noch weitaus schlimmere Misshandlungen durch dieselben Leute hinzukommen, ehe er wirklich abdrückt. Sogar der Oberschurke muss sich im Showdown schließlich selbst versehentlich töten. In einer seiner Filmparodien hat sich das MAD-Magazin** nicht zu unrecht darüber mokiert, dass der körperlich und finanziell ruinierte Levy zum Schluss nicht wenigstens ein paar der herumliegenden Diamanten einsteckt, um sich für den erlittenen Horror zu entschädigen. Zu seiner Verteidigung sei gesagt: das könnte er tatsächlich getan haben, ehe wir ihn aus dem Gebäude kommen sehen.

Dies ist nur eine Macke, die man bei übellauniger Betrachtung des „Marathon Man“ finden könnte, aber dazu ist das Endergebnis ist viel zu unterhaltsam. Dass Dustin Hoffman ist mit 40 für die Rolle zu alt ist – geschenkt! Es ist ein Film, den man mehrfach anschauen muss, um seine Vorzüge vollumfänglich zu genießen, doch führen die Verwicklungen zur Meisterleistung eines Jahrhundert-Schauspielers (Laurence Olivier als gesellig tuender Auschwitz-Zahnarzt) und schlängeln sich durch eine Vielzahl atmosphärisch dichter Szenen: die Paris- und New York-Sequenzen bestechen mit einer fast dokumentarischen Lebendigkeit. (Als der Held um Hilfe ruft, und sich allen Ernstes einbildet, das würde in Manhattan irgendein Schwein interessieren, ist das schon sehr putzig.) Das Wichtigste zuletzt: wir haben es hier mit einem wirklichen Thriller zu tun!

„Marathon Man“ ist Dustin Hoffmans 14. Film und sein erster als arrivierter Hollywoodstar. Der Schauspieler war nie wieder so vielseitig und überzeugend wie in seiner Frühphase, die mit „Tootsie“ 1982 ihren Abschluss und einen neuerlichen Höhepunkt erleben sollte.

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* Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2015/01/11/der-grosse-preis/
** „Der Marathon-Wahn“ von Stan Hart und Mort Drucker, übersetzt von Herbert Feuerstein

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